Die Erinnerung
ist ein Fenster durch das ich Dich sehen kann, wann immer ich will.
Meine Mama - Lazarina Boyanova
Ikonomova, Nov. 2011
18.02.1935 - 10.12.2012
Die
Erinnerung ist ein Fenster, durch das ich Dich sehen kann, wann immer
ich will.
Es gibt zwei Sonnen im Leben…Es gibt zwei Sonnenstrahlen im
Leben…Wärme, Licht, Geruch nach frischen Blumen, Einatmen, Ausatmen,
Augen schließen und das Streicheln genießen.
Einatmen und Ausatmen. Beide Sonnen sind da…Ein Glück, dass es Euch
gibt, ein Glück, dass ich Euch genießen darf…Ein Augenblick, der im Nu
verschwindet, ein neuer, der genauso schnell kommt und wieder geht…
Sonnenuntergang…Wunderschöne Farben…Es wird kühl…Eine große rote
Scheibe …begrüßt mich zum letzten Mal und verschwindet langsam hinter
dem Horizont… Lass mir noch etwas Zeit…Eine Sonne geht, aber die andere
bleibt – im Herzen…
Kannst Du es sehen, kannst Du es fühlen….Wie warm und unermüdlich – die
Mutterliebe…Kannst Du es fühlen?, kannst Du wirklich?
Sie ist immer da, sie bleibt für immer. Sie begleitet mich an kalten
Tagen, in Höhen und Tiefen, sie macht das Unmögliche möglich, sie gibt
Hoffnung, sie weiß zu verzeihen…
Das ist meine Mutter. Hast Du auch so eine Mutter? – Deine Mutter.
Von Geburt an war sie invalide. Sie hat ihr Herz einmal in ihrem Leben
an einem Mann verschenkt. Dann sind wir auf die Welt gekommen, mit viel
Liebe. Leider wusste derjenige, der dieses großartige Geschenk bekommen
hat, es nicht zu schätzen. Die Familie ist allein geblieben. Unser
Vater hat uns wegen einer anderen Frau verlassen, als ich 7 Jahre
alt war …Schließen Sie die Augen und versuchen Sie sich das
vorzustellen. Probieren Sie es. Ein junger Mensch voller Energie, mit
zwei kleinen Kindern, die nichts anderes kennen als Papi und Mami.
Albtraum oder Realität? Glück oder Unglück? Für sie war es die größte
Enttäuschung ihres Lebens. Am Anfang fragten wir morgens beim
Aufstehen: „Wo ist Papi?, kommt er heute?“...Tag für Tag, Monat für
Monat, Jahr für Jahr…Nein er wird nicht mehr zurückkommen. Es gibt nur
noch Mami, die war und ist immer da, für uns, für mich, sie ist
geblieben. Im Alltag, jeden Tag, jeden Augenblick war sie für uns
einfach da. Es gab nichts Unmögliches für sie. Sie hat es getan! Sie
hat es für uns getan, ohne an ihr eigenes Leben und ihr eigenes Glück
zu denken. Sie hat es getan, getan, getan…
Ich habe sie vor Jahren einmal gefragt: „Mami, du bist so hübsch und
jung, warum findest du nicht ein neuen Partner für der Rest Deines
Lebens, der an Deiner Seite bleiben wird, im Guten und im Schlechten,
warum? Wir sind schon groß, studieren, führen unser eigenes Leben,
stehen fest auf eigenen Füßen, warum tust Du das nicht, warum?“
„Oh, mein lieber Emko“, sagte Sie….„ich habe einmal mein Herz, meine
Liebe, mein Leben verschenkt. Ich habe Euch, meine wunderschönen
Kinder. Das ist jetzt mein Glück. Ich habe noch meine Mutter, Deine
Oma, zu Hause. Ich bin für all diese Menschen da und ich werde für Euch
immer da sein.“
Sie wurde am 10.12.2012 ein heller Stern, der so viel Licht und Wärme
in mein Herz und meine Seele strahlt, dass meine Tränen schnell wieder
trocknen. Sie hat ihren letzten Atemzug in einem bulgarischen
Krankenhaus getan. Allein in einem Zimmer, ist sie ruhig eingeschlafen
und hat zum letzten Mal von uns geträumt. Wir waren weit weg, physisch
auf der Suche nach einem besseren Leben für uns und unsere Familien.
Währenddessen haben die Krankenschwestern und die Krankenpfleger ihre
Taschen und persönlichen Sachen durchsucht und aufgeräumt. Mit
aufgeräumt ist beraubt gemeint – das Kleingeld, die Kette, die sie
jahrelang getragen hat, alles. Wie schrecklich und wie traurig.
Am 11.12. saß ich direkt nach der Arbeit im Flieger Richtung Bulgarien,
wo ich kurz vor Mitternacht ankam. Es war sehr kalt und winterlich.
Minus 12 Grad Celsius, starker Wind und Schnee haben meine Trauer
verstärkt. Von Sofia bin ich mit dem Auto meines Schwagers nach Byala
Slatina gefahren. Ich konnte den Weg kaum erkennen, denn um diese
Uhrzeit sitzt der Winterdienst schon längst betrunken in der Kneipe,
und die Straßen werden mit jeder Minute unbefahrbarer. Nach 3 Stunden
Fahrt durch Nacht und Schneesturm bin ich endlich angekommen. Das Haus
hat geleuchtet. Das Haus, wo ich meine Kindheit verbracht habe, die
Erinnerungen, all dieser wohlbekannte Duft nach Vergangenheit so weit
und so nah hat meine Tränen fließen lassen.
Ich kam rein, habe in meinem Kinderzimmer geschaut, und sie war da.
Meine liebe Mami im Sarg. Ganz ruhig lag sie, so als ob sie gerade
eingeschlafen wäre. Sie war auch im Tod sehr schön, habe sie geküsst,
kalt war sie, sehr kalt, aber hübsch…
Ich saß lang bei ihr, habe im Gedanken zu ihr gesprochen und sie immer
wieder gestreichelt. Ein Gefühl der Dankbarkeit, eine letzte Chance,
ihr ins Gesicht zu schauen. Meine Tochter Laura hat für sie ein paar
schöne Bilder gemalt. Ein Teddybär und mein Buch „Eiger Traum und
Wirklichkeit“ haben bei ihr im Sarg einen sicheren Platz gefunden,
damit sie sie immer dabei hat.
12.12.2012, ein besonderer Tag, wo Tausende von Menschen sich das
Jawort geben. Ein Tag voller Freude und Hoffnungen, auf
Familienwünsche, auf Träume. Ein Tag der Kälte und Trauer, ein Tag der
letzten Reise und gefrorenen Tränen, ein frisches Grab, ein frischer
Blumenstrauß.
Ein leeres Haus ist geblieben, das über Jahrzehnte vielen Menschen
unserer Familie ein Dach und Gemütlichkeit geboten hat. Alles war an
seinem Platz, ganz frisch und noch benutzt. Alles Materielle, was mit
viel Mühe angeschafft wurde, liegt jetzt dort wertlos herum. Der Mensch
ist nicht mehr da, man nimmt nichts mit ins Grab.
Der Rückflug ging am Freitag, dem 14.12.2012. Die Leere ist mit mir
geflogen. Jahrelang habe ich immer wieder zum Telefonhörer gegriffen
und sie angerufen. Es war immer schön ihre Stimme zu hören, ihren Rat
anzunehmen, im Guten und im Schlechten mit ihr reden zu dürfen. Das
wird nie mehr passieren.
Am Flughafen in Frankfurt hat mich meine Tochter Laura mit Helmut,
meinem Lieblingsnachbarn und Freund, abgeholt. Gleich sind wir mit
Laura in die Schule gefahren, denn an diesem Tag fand dort ihre erste
Weihnachtsfeier statt. Zwei Welten sind aufeinandergetroffen; ein
Leben, das zu Ende gegangen ist und ein Leben, das gerade anfängt. Wie
faszinierend, wunderschön und traurig zugleich.
Es wird eine Weile dauern, bis ich wieder gut lachen kann, aber die
Zeit wird es heilen. Laura meinte zu mir: „Papi, ich werde jetzt mit
Dir Quatsch machen, damit Du wieder schön lachen kannst.“ Ich danke
Dir, meine liebe kleine Tochter, danke, dass es Dich gibt und Du mir
mein Tränen abgewischt hast.
Das Leben geht weiter…Ich trage all meine Liebe, Anerkennung und
Dankbarkeit für meine Mutter und das Glück sie gehabt zu haben.